Können wir uns Ausbildungsreife noch leisten?

Fachtag Übergang Schule – Beruf am 13.06.2024 im KVJS-Tagungszentrum Gültstein

Der Fachkräftemangel und der demografische Wandel sorgen in Deutschland für Zukunftsängste, während gleichzeitig Konzepte wie New Work und die Ausbildungsreife gefördert bzw. überdacht werden sollen. Auffallend ist jedoch die hohe Anzahl junger Menschen ohne Berufsausbildung, was die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis verdeutlicht. In diesem Spannungsfeld stand die Planung des diesjährigen Fachtages, organisiert in Zusammenarbeit mit der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Jugendsozialarbeit. „Unser Wunsch war es, diesem Dilemma nachzugehen“, erklärte Annette Bader (KVJS-Landesjugendamt, stv. Referatsleitung Jugendarbeit, Förderprogramme und Landesverteilstelle UMA). Sie betonte die Bedeutung einer gemeinsamen Herangehensweise am Übergang von der Schule in den Beruf.

Vertreter*innen verschiedener Ministerien, der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitgeberverbände sowie der arbeitsweltbezogenen Jugendsozialarbeit und die Stimmen der betroffenen Jugendlichen waren auf dem Fachtag vertreten. Annette Bader hob hervor, dass nur durch gemeinsames Handeln nachhaltige Lösungen gefunden werden können.

Ralf Nuglisch (Vorstandsmitglied der LAG Jugendsozialarbeit seitens des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Baden-Württemberg) fragte provokant, ob sich Deutschland Ausbildungsreife noch leisten könne und antwortete klar: „Ja, wir müssen das sogar.“ Er betonte die Bedeutung von Qualitätskriterien und langfristigen Perspektiven für die Jugend, räumte jedoch ein, dass dies eine Herausforderung sei: „Wir haben das lange diskutiert – nur wenn man es sich erlauben kann.“ Der demografische Wandel zwinge zu Veränderungen, und ohne Investitionen in die Jugendsozialarbeit werde es nicht gelingen. „Wir dürfen niemanden zurücklassen“, so Nuglisch, und forderte gemeinsame Anstrengungen von Verwaltung, Politik, Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe. Es gebe viele Instrumente, um junge Menschen und Betriebe zu unterstützen.

Angelika Wittek und Alina Beck moderierten den Tag und sorgten für einen reibungslosen Ablauf der Veranstaltung, die darauf abzielte, verschiedene Sichten auf die berufliche Integration junger Menschen durch unterschiedliche Partner:innen am Übergang Schule-Beruf darzustellen.

Volker Seitz (Berater bei RD BW) präsentierte aktuelle Entwicklungen des Ausbildungsmarktes aus der Regionaldirektion Baden-Württemberg der Bundesagentur für Arbeit. Zum Berichtsjahresende 2023 verzeichnete man einen leichten Anstieg bei den Bewerber:innenzahlen, jedoch bleiben Ausbildungsstellen weiterhin unbesetzt. Im Mai 2024 zeigten erste Trends einen Anstieg der Bewerber:innenzahlen um 1,5%, während die Zahl der Ausbildungsstellen um 1,8% zurückging. Der demografische Wandel und die gestiegene Studierneigung beeinflussen den Ausbildungsmarkt erheblich. Eine Erweiterung und Modifizierung der Förderinstrumente sowie eine stärkere berufliche Orientierung sind entscheidend, um junge Menschen gezielt zu unterstützen.

Tanja Rieger vom Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg und Ralf Kaiser vom Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Baden-Württemberg erläuterten die Ziele der Neugestaltung des Übergangs von der Schule in den Beruf. Ziel sei es, mehr Schulabgänger:innen direkt in die Ausbildung zu bringen und Jugendlichen mit Unterstützungsbedarf individuelle Begleitung zu bieten. Bis zum Schuljahr 2025/2026 soll das Konzept AVdual flächendeckend umgesetzt werden, um eine systematische berufliche Orientierung zu gewährleisten. Die Stärkung der Bildungspartnerschaften und eine umfassende Datenerhebung in allen 44 Stadt- und Landkreisen sind entscheidende Maßnahmen zur erfolgreichen Umsetzung dieser Ziele.

Selina Neuffer und Thomas Weise, Abteilung Berufliche Bildung und Fachkräfte IHK Region Stuttgart beleuchteten das Thema Ausbildungsreife aus der Perspektive der betrieblichen Praxis. Sie betonten die vielfältigen Lebenswelten und Wertehaltungen der Generation Z und die damit einhergehenden Herausforderungen. Fast 13.000 unbesetzte Ausbildungsstellen stehen ca. 10.000 unversorgten Bewerber:innen gegenüber, wobei viele Jugendliche als nicht ausbildungsreif diagnostiziert werden. Um diese Diskrepanz zu überwinden, seien sowohl Betriebe als auch Jugendliche gefordert, sich aufeinander zuzubewegen. Die IHK unterstützt dies durch Projekte wie „Azubi gesucht?“ und „Erfolgreich ausgebildet – Ausbildungsqualität sichern“, um eine gemeinsame Herstellung der Ausbildungsreife zu ermöglichen.

 

Nach der Mittagspause moderierten Alina Beck und Angelika Wittek ein Panel zum Thema „Herausforderungen von heute“ mit Personen aus der Praxis: Ralf Kaiser (Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus BW), Rolf Eiss (Vorsitzender FG Berufsbildung, Kreisstelle Böblingen DEHOGA BW), Barbara Stanger (Leiterin des Förderband e.V. in Mannheim), Alexander Beck (Betriebsleiter HOKUBEMA Maschinenbau GmbH), Klara Fischer (Referentin Bildungspolitik, HANDWERK BW) (auf dem Bild von links nach rechts).

Diese Punkte wurden von der Praxis diskutiert:

  1. Jugendliche zeigen verstärkt psychische Belastungen und Entscheidungsschwierigkeiten bezüglich ihrer beruflichen Zukunft.
  2. Ausbildungsmarkt zeigt sich offener für Bewerber:innen als noch vor Corona Zeit.
  3. Betriebe in der Hotellerie und im Gastgewerbe haben Schwierigkeiten, Auszubildende zu finden, setzen vermehrt auf Praktika zur Auswahl.
  4. Auch im Handwerk wird Digitalisierung immer bedeutsameres Thema.
  5. um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken: finanzielle Anreize schaffen, Betriebsklima fördern
  6. Strategien zur Integration benachteiligter junger Menschen in den Arbeitsmarkt werden diskutiert, u.a. durch gezielte Praktika und Ausbildungsprogramme.
  7. Langfristige Hilfe und persönliche Betreuung ab der 7./8. Klasse werden als wirksame Maßnahmen für benachteiligte Jugendliche
  8. Individuelle Lösungen und intensive Beziehungsarbeit bleiben entscheidend fü die Begleitung benachteiligter jungen Menschen.

Als Veranstaltungs-Ausklang stellten sich die Panel-Teilnehmenden für einen Fachaustausch zur Verfügung.

 

Im kommenden Jahr 2025 wird dieser Fachtag erneut zu einem aktuellen Thema stattfinden.