Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit einer seelischen Behinderung

Kinder und Jugendliche mit einer seelischen Behinderung sind oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, haben Anspruch auf Eingliederungshilfe. Das KVJS-Landesjugendamt unterstützt die Jugendämter vor Ort bei der Umsetzung dieser Aufgabe.

„Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn Beeinträchtigung zu erwarten ist.“

(KVJS; Dezerantsübergreifende Arbeitsgruppe zur Eingliederungshilfe)

Die Bewertung orientiert sich dabei an der Teilhabefähigkeit des Menschen (Partizipationsmodell), und nicht an seinen Defiziten.

Die Jugendämter treten im Kontext des § 35a SGB VIII nicht als Jugendhilfeträger auf, sondern als Rehabilitationsträger. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Rehabilitationsleistungen sind für alle Rehabilitationsträger im Bundesteilhabegesetzes (BTHG) bzw. SGB XI geregelt. Insofern ist festzuhalten, dass für Jugendhilfeleistungen nach § 35a SGB VIII immer auch die Regularien des BTHG zu beachten sind. Viele Aspekte des BTHG, die aktuell diskutiert werden, sind keine wirklichen Neuerungen, da sie bisher schon in der alten Fassung des BTHG enthalten waren. Manches wurde neu gefasst bzw. dezidierter definiert, war jedoch bisher schon im SGB IX gefasst (z. B. die Fristen für die Leistungsgewährung). Diese Regelungen treten jetzt jedoch stärker in den Fokus, da durch das BTHG das Verhältnis der Rehaträger untereinander und die Form der Kooperation unter den Trägern neu definiert wurde. Für den Leistungsempfänger soll die Hilfe wie aus einer Hand geleistet werden, auch wenn mehrere Rehaträger an der Leistungsgewährung und -erbringung beteiligt sind.

Das BTHG definiert den Behinderungsbegriff neu, orientiert an der UN-BRK. Behinderung wird nicht mehr anhand individueller Beeinträchtigungen und Eigenschaften des Menschen definiert (er/sie ist behindert), sondern vor allem in Wechselwirkung mit seinen jeweiligen umweltbedingten Barrieren betrachtet (er/sie wird behindert). Der Behinderungsbegriff in § 35a SGB VIII hingegen ist unverändert geblieben. Hier ist zu hoffen, dass bei der erforderlichen redaktionellen Neufassung des § 35a SGB VIII im Rahmen der SGB VIII-Reform dementsprechend angepasst wird.

Für den Leistungsempfänger soll die Hilfe wie aus einer Hand erfolgen. Dies bedeutet, dass es zukünftig einen leistenden Rehabilitationsträger geben wird, auch wenn mehrere Rehaträger an der Leistungserbringung beteiligt sind. Der leistende Rehaträger hat die Verantwortung, die Leistungen der einzelnen Träger zu koordinieren und im Rahmen des neu installierten Instrumentes der Teilhabeplanung mit den anderen Trägern abzustimmen. In der Regel ist der erstangegangene Rehaträger auch der leistende Träger. Er muss dann für dich die Zuständigkeit klären und gegebenenfalls den Antrag in Teilen weiterleiten an den Träger, der für einzelne Teile zuständig ist, für die der erstangegangene nicht zuständig ist (Antragssplitting). Bei insgesamter Nichtzuständigkeit muss er den Antrag an den aus seiner Sicht zuständigen Träger innerhalb einer definierten Frist von zwei Wochen weiterleiten, der dann leistender Rehaträger wird (Weiterleitung). Für welche Leistungen der Jugendhilfeträger grundsätzlich zuständig sein kann, wurde in § 6 Abs. 1 SGB IX in Bezug auf § 5 SGB IX geregelt. Für diese hier benannten Leistungen besteht für den Jugendhilfeträger aufgrund der Regelungen des § 10 SGB VIII teilweise keine vorrangige Leistungsverpflichtung (z. B. für Leistungen der medizinischen Rehabilitation). In diesen Fallkonstellationen hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe als Rehaträger jedoch die Koordinierungs- und Leistungsverantwortung. Bei mehreren zuständigen Rehaträgern muss ein Teilhabeplan erstellt werden. Das in der Jugendhilfe genutzte Instrument des Hilfeplans steht dabei nicht in Konkurrenz zum Teilhabeplan, sondern ergänzt diesen, begrenzt auf die Leistungen der Jugendhilfe.

Der Gesetzgeber hat die Rehaträger verpflichtet, die Bedarfsermittlung an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit (ICF) zu orientieren. Die Jugendhilfeträger sind von dieser Verpflichtung jedoch explizit ausgenommen, wenngleich diese Orientierung vom Gesetzgeber auch durch die Jugendhilfe präferiert wird. Durch die Orientierung am ICF wird quasi dem o. g. Behinderungsbegriff entsprochen.

Der Gesetzgeber hat die Rehaträger außerdem verpflichtet, „systematische Arbeitsprozesse“ und „standardisierte Arbeitsmittel“ für zur einheitlichen und überprüfbaren Ermittlung des individuellen Rehabedarfs zu entwickeln. Dies war bereits in der alten Fassung des SGB IX bereits die Erwartung des Gesetzgebers, wurde aber so nicht umgesetzt, weshalb der Gesetzgeber dies nun explizit definiert hat. Diese Instrumente sollen den gemeinsamen Empfehlungen der Rehaträger folgen, welche durch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Rehabilitationsträger (BAR) festgeschrieben wurden. Die Jugendhilfeträger sind hiervon wiederum ausgenommen. Sie können diesen Empfehlungen jedoch beitreten, sollen sich aber zumindest daran orientieren. 

Im Zuge des am 01.10.2005 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) wurde auch eine Neufassung des § 35a SGB VIII - Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche vorgenommen. Im Wesentlichen wurden hierbei die Leistungsvoraussetzungen sowie die Aufgabenstellung für die Jugendhilfe und andere beteiligte Fachprofessionen trennschärfer definiert.


Die Feststellung des Anspruchs auf Eingliederungshilfe

Die Feststellung des Anspruchs auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII erfolgt zweigliedrig. Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit muss eine (anhand der im Gesetz benannten Kriterien) medizinische Stellungnahme vorliegen. Liegt diese vor, prüft das Jugendamt , ob der junge Mensch aufgrund der Abweichung der seelischen Gesundheit in seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist und die somit Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe vorliegen.

 

Feststellung des Zustands der seelischen Gesundheit

Die medizinische Stellungnahme dient in einem ersten Verfahrensschritt der Feststellung, ob die seelische Gesundheit des Kindes/Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweicht und somit eine der Voraussetzungen des § 35a SGB VIII erfüllt ist. Der Gesetzgeber hat für die Feststellung des Zustands der seelischen Gesundheit folgende Rahmenbedingungen festgelegt:

 

Standards der Stellungnahme/des Gutachtens

  • Die Diagnose/das Gutachten einer Störung von Krankheitswert ist auf der Grundlage der ICD 10 in deutscher Fassung zu erstellen. Bei der Annahme einer (drohenden) seelischen Behinderung wird die prognostische Abweichung des für das Lebensalter typischen Zustandes (mit hoher Wahrscheinlichkeit, für länger als 6 Monate) vorausgesetzt.
  • Benennung der Personen/Berufsgruppen die Stellungnahmen/Gutachten zur Abweichung der seelischen Gesundheit erstellen dürfen 
    In Abs. 1, Satz 1, Nr. 1 werden die qualifizierten Berufsgruppen benannt und vorgeschrieben:
    • Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, 
    • Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, oder 
    • ein Arzt oder psychologischer Psychotherapeut mit besonderen Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
  • Trennung von feststellender/diagnostizierender und Hilfeerbringender Institution
    Es wird klargestellt, dass die diagnostizierende Institution nicht an der Leistungserbringung beteiligt sein soll.

Feststellung der Teilhabefähigkeit durch die Fachkräfte des Jugendamtes

Die medizinische Stellungnahme kann nicht die anschließende Feststellung einer (drohenden) seelischen Behinderung und über die geeignete und notwendige Hilfe durch das Jugendamt vorweg nehmen. Wurde entsprechend dem in § 35a Abs. 1a geregelten Verfahren eine seelische Störung festgestellt, prüft die sozialpädagogische Fachkraft des Jugendamtes nach Maßgabe des Hilfeplans und unter Beachtung gesetzlicher Vorgaben, ob aufgrund der seelischen Störung eine Teilhabebeeinträchtigung des jungen Menschen am Leben in der Gesellschaft vorliegt (oder zu erwarten ist), aus der sich ein Eingliederungshilfebedarf begründet.

Die Entscheidung über Art und Ausgestaltung der Hilfe nach § 35a SGB VIII liegt in der Verantwortung und Federführung des Jugendamtes, unter Einbeziehung der Kinder, Jugendlichen, bzw. jungen Volljährigen und Kooperation mit den beteiligten Fachinstitutionen.

Verfahrenshinweise zur Bedarfsfeststellung für Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz/SGB VIII einschließlich der Leistungen nach § 35a und § 41 mit Beiblättern für Stellungnahmen (Formblatt J).

Checkliste für die Praxis der Jugendhilfe


Steuerungsverantwortung des Jugendamtes

Durch die Einfügung des § 36a wird die Steuerungsverantwortung des Jugendamtes klargestellt und der Selbstbeschaffung von Leistungen der Jugendhilfe enge Grenzen gesetzt. Das Jugendamt ist zur Übernahme der Kosten nur verpflichtet, wenn auf der Grundlage des SGB VIII und den dort vorgesehenen Verfahren entschieden wird.

Die Selbstbeschaffung von Leistungen ist nur in bestimmen Ausnahmesituationen möglich, wenn

  • die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen,
  • der Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt wurde,
  • der Jugendhilfeträger eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringt, nicht rechtzeitig erbringt oder er eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. 

SGB IX – Download

Positionspapier – Persönliches Budget (PB) in der Jugendhilfe
(BAGLJÄ – Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter)
Das Persönliche Budget (PB) in der Jugendhilfe/§ 35a EGH
Rundschreiben Dezernat 4 – 12/2009
Anlage zum Rundschreiben

Orientierungshilfe zu Leistungen nach SGB XII und SGB VIII
für junge Menschen mit seelischer, körperlicher und geistiger Behinderung
Orientierungshilfe (22.07.2011)

Orientierungshilfe zur Feststellung der Teilhabe bzw. Teilhabebeeinträchtigung gem. § 35a SGB VIII – Orientierungspunkte/Checkliste für die Praxis der Jugendhilfe
Rundschreiben und Orientierungshilfe (30.11.2006)

Arbeitshilfe – Eingliederung nach § 35a SGB VIII (ISM gGmbH)
Arbeitshilfe ISM gGmbH (Marion Moos, Heinz Müller; 01/2007)

Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII (bzw. Frühförderung)
Antrag

Arbeitshilfe – Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII
Arbeitshilfe (Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V.; 03.05.2006)

Bericht KVJS aktuell – Trendwende bei seelisch behinderten Kindern und Jugendlichen
Bericht (Gabriele Addow; 02/2005)

Orientierungshilfe – Umgang mit Lese-, Rechtschreib-, Rechenstörungen und ADHS
Orientierungshilfe (Städte- und Landkreistag Baden-Württemberg, Landeswohlfahrtsverbände; 10/2003)

Arbeitshilfe – Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in der Neufassung durch das KICK aus rechtlicher und medizinischer Sicht
Arbeitshilfe (Prof. Peter-Christian Kunkel, Hochschule für öffentliche Verwaltung, Kehl, Prof. Dr. Gerhard Haas, Kommunalverband für Jugend und Soziales, Baden-Württemberg; o. J.)

Arbeitshilfe – Verfahrenshinweise zur Bedarfsfeststellung für Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz/SGB VIII einschließlich der Leistungen nach § 35a und § 41 mit Beiblättern für Stellungnahmen
Verfahrenshinweise (07/2006)

DGKJP

Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V.

  • Themenschwerpunkte: Forschung in den Bereichen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Neurologie, Psychosomatik und Psychologie des Kindes- und Jugendalters sowie Heilpädagogik
  • Homepage: www.dgkjp.de
  • Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie: www.dgkjp.de

Urteil zur Abgrenzung Jugendhilfe/Eingliederungshilfe

Tatbestand: 1
Die Beteiligten streiten, ob die Beklagte Kosten für die Unterbringung der Klägerin in der Mutter-Kind-Einrichtung H-Heim in C tragen muss.

Urteil Landessozialgericht NRW (2007, noch nicht rechtskräftig)

 

Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Eingliederungshilfe

Nach § 35a SGB VIII besteht ein Anspruch gegen den Jugendhilfeträger auf Erstattung von Kosten für Fahrt und Begleitung zu ambulanter therapeutischer Behandlung als Annexkosten (Kosten, die im Zusammenhang mit einer gesetzlichen Leistung eines anderen Kostenträgers entstehen) auch dann, wenn die gesetzliche Krankenversicherung nur noch die Behandlungskosten selbst zu tragen hat.

Urteil Bundesverfassungsgericht § 35a SGB VIII (22.02.2007)

 

Ablehnung von Eingliederungshilfe

Urteil Verwaltungsgericht Sigmaringen nach § 35 a SGB VIII bei Legasthenie (21.07.2005)

Kontakt

Mathias Braun

Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD) im Jugendamt und Kinderschutz, Devianzpädagogik / Jugendhilfe im Strafverfahren, Eingliederungshilfe

Telefon: 0711 6375-770