Orientierung haben, Orientierung geben
Jahrestagung der Mobilen Jugendarbeit / Streetwork am 22.04. – 24.04.2024
Die diesjährige Jahrestagung der Mobile Jugendarbeit / Streetwork in gemeinsamer Kooperation zwischen der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Mobile Jugendarbeit/Streetwork B.W. e. V. und dem KVJS-Landesjugendamt stand unter dem Motto „Orientierung haben, Orientierung geben – Haltung in der Mobilen Jugendarbeit“.
Am Abend des Ankunftstags wurden die Teilnehmenden von Riva Moll (KVJS-Landesjugendamt) und Gerhard Eppler (Mitglied der Vorbereitungsgruppe) begrüßt.
Mit dem Vortrag „Love me queerly“ von Muriel Aichberger startete die Jahrestagung in das Abendprogramm. Der Vortrag thematisierte die Vielfalt von Beziehungen und Liebe jenseits der gesellschaftlichen Normen. Es wurden Begriffe wie Polyamorie und ethische Non-Monogamie erklärt und deren Hintergründe beleuchtet. Muriel Aichberger stellte die Wichtigkeit der Selbstaffirmationstheorie heraus, um das Selbstwertgefühl zu stärken und mit gesellschaftlichen Erwartungen flexibel umzugehen. Abschließend unterstrich Muriel Aichberger die Bedeutung von Gleichberechtigung, Vielfalt und Inklusion, insbesondere für LGBTIAQ+ Jugendliche.
Der zweite Tag begann mit dem Markt der Möglichkeiten im Foyer. Hier wurden Präsentationen aus der Praxis in Form von Dokumentationen, Fotos, Jahresbericht und auch Filmen vorgestellt.
Annette Bader (KVJS, stv. Referatsleitung, Referat 44) begrüßte herzlich zur Jahrestagung und würdigte das Engagement aller Teilnehmenden. Sie hob die enge Zusammenarbeit mit der LAG Mobile Jugendarbeit / Streetwork BW und der Vorbereitungsgruppe aus Praktikerinnen und Praktikern hervor, die gemeinsam das interessante Tagungsprogramm entwickelt haben. Des Weiteren betonte sie die finanzielle und konzeptionelle Unterstützung des Ministeriums Soziales, Gesundheit und Integration für die Mobile Jugendarbeit. Diese Unterstützung, sowohl finanziell als auch konzeptionell, wird seit vielen Jahren geleistet und trägt maßgeblich dazu bei, dass benachteiligte junge Menschen in ihrer Lebenswelt und im öffentlichen Raum Unterstützung erhalten. Zum Abbau von Benachteiligungen und damit zum Erhalt der Sozialen Infrastruktur ist eine angemessene finanzielle Unterstützung der Mobilen Jugendarbeit / Streetwork unerlässlich.
Die bisherige Vorstandsvorsitzende der LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork BW e. V. Katharina Huber führte in das diesjährige Tagungsthema ein. Die Fähigkeit zur Orientierung wird als grundlegend und entscheidend für die Lebensführung betrachtet, wobei es wichtig sei, Hindernisse zu überwinden und flexibel zu bleiben. Die Jugendphase sei geprägt von vielen Fragen und der Suche nach Identität, Orientierung und Zugehörigkeit. In einer Gesellschaft, in der scheinbar so viele Möglichkeiten offenstehen und die Individualisierung von Entscheidungen so entscheidend ist, kann diese Suche oft problembehaftet und schwierig sein. Die Fachkräfte können dabei helfen und unterstützen, die eigene Orientierungsfähigkeit der Jugendlichen zu stärken und dabei auch gesellschaftliche Missstände und Benachteiligungen in den Blick nehmen. Dabei bekräftigt sie: "Orientierung zu geben setzt voraus, selbst Orientierung zu haben."
Der neu gewählte Vorsitzende der LAG MJA BW Julius Elser (MJA Stuttgart-Ost, Evangelische Gesellschaft Stuttgart e. V. Vorsitzender) leitete den Vortrag von Martina Bodenmüller (Diplom-Pädagogin, Kunsttherapeutin) ein.
Der Vortrag über "Akzeptierende Haltung und Grenzen in der Mobilen Jugendarbeit" thematisiert die Herausforderungen des Grenzziehens in offenen Arbeitsfeldern, insbesondere die Unsicherheit zwischen beruflichen und privaten Grenzen, die strukturellen und individuellen Grenzen sowie die Überschneidung von Arbeits- und Privatleben. Sie machte deutlich, dass in der Jugendsozialarbeit Kontakte und Beziehungen essenziell seien, wobei das Spannungsfeld zwischen verschiedenen Interessengruppen wie Politik, Auftraggebern und Anwohnern berücksichtigt werden müsse. Die Wertschätzung und Akzeptanz der Jugendlichen als Personen stehen im Fokus, während individuelle Verhaltensweisen nicht immer akzeptiert werden müssten. Die Thematik der Grenzen erstreckt sich auch auf den Einsatz materieller Werte, die informationelle Selbstbestimmung, Beziehungen und Freundschaften sowie seelische Vereinnahmungsprozesse. Sie wies darauf hin, dass es wichtig sei bei Aversionen hinzuspüren und diese thematisiert und nicht tabuisiert werden, um gemeinsam im Team einen Umgang zu finden.
Herr Leipold (Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration, Referat Jugend) prognostizierte, dass die Jugendsozialarbeit sich in den kommenden Jahren stark verändern werde. Unter anderem, da – bedingt durch den demographischen Wandel, Fachkräftemangel und damit unbesetzte Stellen - mehr unterschiedliche Aufgaben von weniger Personal erledigt werden müsse., Aber auch Sparmaßnahmen können zu einem Einschnitt in die Arbeit führen/können zu einem fachlichen Qualitätsverlust führen. Er thematisierte die Wertschätzung des SM für die MJA und betonte gleichzeitig, die Notwendigkeit, die Arbeitsweise ständig neu zu positionieren. Herr Leipold appellierte an die Teilnehmenden, sich vermehrt für die Lobbyarbeit zur Stärkung der Jugendsozialarbeit einzusetzen. Im Hinblick auf die finanzielle Unterstützung durch das Ministerium stellte er die Stärkung der Jugendsozialarbeit im Rahmen des Aktionsprogramms heraus. Zudem wies er auf die Bedeutung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) hin und unterstreicht die Notwendigkeit, die Praxis und den Handlungsbedarf zu berücksichtigen. Er appellierte an eine sinnvolle Vernetzung und mehr Zusammenhalt, um das Arbeitsfeld der MJA weiterhin auf einem qualitativ hochwertigen Niveau zu halten.
Das Bündnis für ein Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit, vertreten durch Chrissi Bollig und Volker Körenzig, forderte in seinem Beitrag dringend eine Reform des §53 StPO und somit eine rechtliche Absicherung für Sozialarbeitende. Aktuell besteht eine Diskrepanz zwischen der beruflichen Schweigepflicht und dem fehlenden strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrecht, was den Zugang zu bestimmten Zielgruppen erschwert und das Vertrauensverhältnis gefährdet. Sozialarbeitende müssen bei bekannt werden einer Straftaten entscheiden, ob sie im Strafverfahren aussagen und das Vertrauen ihrer Klient:innen zerstören oder schweigen und damit rechtliche Konsequenzen riskieren.
Ein konkreter Fall aus Karlsruhe verdeutlicht die Problematik: Nach einem Vorfall im Kontext einer Pyro-Show im Stadion im November 2022 verweigerten Sozialarbeitende (darunter Volker Körenzig) die Aussage. Gegen die Mitarbeitenden wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Strafvereitelung eingeleitet. Vor kurzem wurden ihnen nun ein Strafbefehl über 120 Tagessätze à 60 Euro übermittelt, was bedeutet, dass sievorbestraft sind. Trotz erfolgreicher Vermittlungsgespräche und breiter Unterstützung bleibt das Verfahren belastend für ihre Arbeit und das Betriebsklima, während die Diskussion um ein Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiter anhält.
Das Bündnis, 2020 gegründet, bietet Workshops und Vorträge an, um die Handlungssicherheit zu stärken und fördert die Reflexion der eigenen Arbeit in Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern. Ziel ist es, das Vertrauensverhältnis zwischen Sozialarbeitenden und Klient:innen zu schützen und Solidarität unter den Fachkräften zu fördern. Weitere Infos unter: Zeugnisverweigerungsrecht (zeugnis-verweigern.de)
Im Anschluss des Vortrags wurde ein vielfältiges Angebot an Workshops zu Themen wie u.a. Umgang mit sexualisierten Grenzverletzungen, Männlichkeitsforschung und progressive Männlichkeiten, Umgang mit persönlichen und strukturellen Grenzen in der Mobilen Jugendarbeit angeboten.
Der dritte Tag wurde von Prof. Dr. Jan Skudlarek (Autor, Philosoph, Professor für soziale Arbeit) eröffnet. In seinem Vortrag „Gemeinwohl trotz Krise: Verantwortung und Freiheit in schwierigen Zeiten“ thematisierte er die Balance zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl in Krisenzeiten. Skudlarek erklärte, wie individuelle Freiheit und das Gemeinwohl in Krisenzeiten zusammenpassen würden. Er betonte, dass falsche Informationen und Konflikte über die Wahrheit, besonders unter Jugendlichen, das Gemeinwohl gefährden würden. Soziale Medien würden dieses Problem verstärken und zu Freiheitskonflikten führen. Skudlarek kritisierte, dass der Freiheitsbegriff in der Politik oft überstrapaziert werde, und verdeutlichte den Unterschied zwischen positiver Selbstbestimmung und extremem Autonomismus. Er erklärte, dass Verantwortung bedeute, für sein Handeln sowohl rückblickend als auch vorausschauend Rechenschaft abzulegen, wobei Wahlfreiheit wichtig sei. Um das Gemeinwohl zu sichern, sollten Regeln gemeinsam mit den Jugendlichen entwickelt werden, um Trotzreaktionen zu vermeiden, die entstehen könnten, wenn Jugendliche das Gefühl hätten, ihre Freiheit werde eingeschränkt.
Nach diesem Vortrag wurden es wieder interaktiver: Andreas Reuter (KVJS, Stabstelle Kommunikation) führte in den sog. „Rat der Weisen“ ein – eine Methode zur Ideenfindung und wertschätzenden Gesprächsführung. Die Teilnehmenden bringen hier Themen ein, die sie in Kleingruppen diskutieren. Ziel ist es, durch offenen Austausch und gegenseitige Wertschätzung innovative Ideen zu generieren und gemein zu Lösungen zu gelangen. Eingebrachte Themen waren unter anderem „Lernen aus der NS-Zeit für heute“, „Kombi-Stellen“ und „Freundin oder Streetworker:in“.
Der Termin für die nächste Jahrestagung der mobilen Jugendarbeit / Streetwork steht bereits fest. Sie ist vom 05.05.2025 bis 07.05.2025 im KVJS-Tagungszentrum Gültstein geplant.